Auf der Fährte eines Spurensuchers: Adolf Grünthal, Robert Glücksmann und die Exilierung der deutschen Fremdenverkehrsforschung
Unter diesem Titel erschien im Maiheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) ein Beitrag von Gerlinde Irmscher. Die Autorin stützte sich auf Materialien, die bei der Erstellung einer Findliste zur REPR Grünthal im HAT ihr Interesse erregt hatten (die Findliste siehe: http://hist-soz.de/hat/archivtxt3.html – Signaturen).
Bekanntlich wurde 1929 in Berlin das erste wissenschaftliche „Forschungsinstitut für den Fremdenverkehr“ bei der dortigen Handels-Hochschule eingerichtet. Robert Glücksmann wurde zu seinem Leiter berufen. Adolf Grünthal, der im selben Jahr sein Examen als Diplom-Handelslehrer abgelegt hatte, wurde als Assistent angestellt. Dem Institut war allerdings keine lange Dauer beschieden, was nicht zuletzt an der jüdischen Abstammung seines Chefs lag. Glücksmann wurde 1933 als Mittfünfziger in den Ruhestand versetzt, sein ebenfalls „nichtarischer“ Mitarbeiter Grünthal (Jahrgang 1904) am 1. Mai 1933 entlassen. Nach erfolglosen Bemühungen, außerhalb Deutschlands eine Anstellung als Wissenschaftler zu finden, ging Grünthal nach Südafrika, wo er allerdings nicht in seinem Beruf arbeiten konnte. Seine Ambitionen hatte er allerdings nie aufgegeben, wie einige Dokumente aus seinem Exilland zeigen.
Ende der 1950er Jahre versuchte er, in Westdeutschland wieder Fuß zu fassen. Ein Besuch in Europa hatte ihn mit neuen Entwicklungen in der Fremdenverkehrswissenschaft vertraut gemacht, die dem Aufstieg des Massentourismus nach dem 2. Weltkrieg korrespondierten. Grünthal wurde Mitglied der A.I.E.S.T., der internationalen Vereinigung der Tourismusforscher mit Sitz in der Schweiz. Dadurch trat er wieder in Kontakt zu Personen, die ihm und seinem Lehrer Glücksmann gut bekannt waren. Mit Aufsätzen über den Tourismus in Südafrika versuchte er, sich als Fremdenverkehrsforscher zu empfehlen. Sein größtes Pfund war allerdings die Pionierarbeit, die seinerzeit am Berliner Forschungsinstitut geleistet wurde, wo er seine Dissertation „Probleme der Fremdenverkehrsgeographie“ noch 1934 verteidigt hatte. Diese Arbeit wurde auch nach dem Krieg viel zitiert und stand noch in den 1960er Jahren bei der Begründung der Fremdenverkehrsforschung in der DDR Pate.
Die Begegnung mit seinem früheren Leben war allerdings nicht möglich, ohne seines Lehrers Glücksmann zu gedenken, über dessen Schicksal er anfangs im Unklaren war. Grünthal begab sich für mehrere Jahre auf eine mühsame Spurensuche, für die er sich zwar auf einen offiziellen Auftrag des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes stützen konnte, ohne allerdings eine nennenswerte materielle oder ideelle Unterstützung zu erhalten. Schließlich gelang es ihm, nicht nur Informationen über das tragische Schicksal von Glücksmann und seiner Familie zusammenzutragen, er rekonstruierte auch die Arbeit am Berliner Forschungsinstitut einschließlich seiner Vorgeschichte. Dazu gehörte die kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Lehrer, der eine andere Konzeption von „Fremdenverkehr“ vertreten hatte als er selbst. In drei Aufsätzen wurden seine Ergebnisse in den 1960er Jahren publiziert, allerdings ohne den erhofften Erfolg.
Eine späte Genugtuung wurde Adolf Grünthal dennoch zuteil. An der Freien Universität Berlin war 1984 ein Institut für Tourismus gegründet worden, an dem drei Fachbereiche (Geowissenschaften, Wirtschaftswissenschaft, Geschichtswissenschaft) beteiligt waren. Ein entsprechender Ergänzungsstudienplan „Tourismus mit den Schwerpunkten Management und regionale Fremdenverkehrsplanung“ wurde ab 1985 regulär angeboten. Damit einher ging ein verstärktes Interesse an der Geschichte der Fremdenverkehrsforschung, zumal in Berlin. Im Frühjahr 1987 hatten die Berliner Tourismusforscher Kontakt zu Adolf Grünthal aufgenommen, der sich durch seine Publikationen über Glücksmann empfohlen hatte. Eine der Leiterinnen des Studienganges, Kristiane Klemm, berichtete ihm vom Interesse an der historischen Tourismusforschung und dem Vorhaben, ein entsprechendes Archiv aufzubauen und dessen Material auf Messen und Ausstellungen zu präsentieren. Es entspann sich ein reger Briefwechsel. Grünthal übersandte wichtige Dokumente und vermittelte Kontakte. So beförderte er die Ausstellung „Historischer Wandel touristischer Ausstellungs- und Forschungspraxis in Berlin“, die vom Archiv für Tourismus unter Leitung von Walter Eder und Hasso Spode im Herbst 1987 veranstaltet wurde. Grünthal wurde von nun an zu den Symposien der Arbeitsgruppe Historische Tourismusforschung eingeladen. Vom Dezember 1990 datiert sein letzter, im HAT archivierter Brief. Da wohnte er offensichtlich schon in jenem jüdischen Altersheim in Frankfurt a. M., in dem seine Frau wenige Jahre später seinen Nachlass an Mitarbeiter des Archivs übergab.
Gerlinde Irmscher, Auf der Fährte eines Spurensuchers, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 65 (2017), S.453-470.